Werden strukturelle Probleme erst dann sichtbar, wenn eben diese Strukturen Risse bekommen? Für wen sind gläserne Decken durchsichtig und wer starrt beim Blick nach oben auf Beton? Ausgehend von der umstrittenen Idee, dass Infrastrukturen erst dann sichtbar werden, wenn sie zerbrechen, vereint die Gruppenausstellung Invisible Until It’s Broken acht raumgreifende künstlerische Positionen.
Die Grenzen zwischen privat und politisch, zwischen Individuum und Kollektiv verschwimmen in den Arbeiten der Künstlerinnen, die gerade durch ihre autobiografischen Bezüge unsere Involviertheit als Betrachter:innen einfordern. Mit ihren poetisch-politischen, teilweise spielerisch humorvollen Perspektiven legen die Künstlerinnen der Gruppenausstellung ihre Finger mitten in die Wunde. Risse in sozialen und materiellen Infrastrukturen werden spürbar. Die Werke der internationalen Künstlerinnen sind im Rahmen der Ausstellung Invisible Until It’s Broken überwiegend erstmalig in Deutschland zu sehen.

Eröffnung

Cana Bilir-Meier [DE/TR, 1986]

Der Super 8-Film mit dem Titel This Makes Me Want to Predict the Past porträtiert eine Gruppe von Jugendlichen am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, wo während eines rassistischen Anschlags im Jahr 2016 neun Menschen ermordet, fünf weitere angeschossen und viele schwer verletzt wurden.
Die Kamera im Film folgt zwei Menschen bei ihren alltäglichen Erkundungen des Einkaufszentrums, während sie ihre Träume und Hoffnungen, aber auch Ängste und Albträume thematisieren. Immer wieder werden dabei Fiktion und Realität miteinander vermischt, Szenen aus dem Theaterstück Düşler Ülkesi von 1982 aufgegriffen und unterschiedliche Zeitebenen überblendet.
Düşler Ülkesi (dt. Land der Träume) bezieht sich auf ein Kinder- und Jugendtheaterstück gleichen Namens von Erman Okay, das 1982 in München seine Uraufführung feierte. Darin spielten Laiendarsteller*innen Alltagsszenen aus dem Leben sogenannter 'Gastarbeiter' nach, wobei auch unerfüllte Sehnsüchte, gebrochene Versprechen, Vorurteile und Missverständnisse thematisiert wurden. Das Projekt war zugleich ein Pioniervorhaben, in dem junge Menschen unterschiedlicher Herkunft in einem gemeinsamen Prozess zusammengebracht wurden, um gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Die Premiere des Stücks wurde von einer rechten faschistischen Bombendrohung in München gegen das Theater überschattet.

www.canabilirmeier.com

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Yun Choi [KR, 1989]

Yun Chois künstlerische Praxis befasst sich mit der Absurdität des emotionalen Konflikts, der durch die Überschneidung zeitlicher Ebenen in einer sich rasant verändernden Gesellschaft entsteht. Die komplexen Empfindungen von Entfremdung, Unbehagen und Bindung sind hierbei wesentliche Aspekte ihrer interdisziplinären Arbeiten. Im Umgang mit zeitgenössischen (digitalen) Nebenprodukten und Rückständen, die aus diesen Empfindungen entstehen, nutzt und erforscht sie verschiedene Methoden wie Nachahmung, Anhäufung und Vermehrung. Mit ihrer immersiven Videoinstallation lädt sie uns ein, die Grenzen konventioneller kolonialer Perspektiven aufzulösen, indem Gefühle der Desorientierung hervorgerufen werden, die Verwandlung in Mehrkörperwesen begrüßt und ein aufrichtiger Aberglaube angepriesen wird.

www.yunyunchoi.com
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Rajyashri Goody [IN/GB, 1990]

Die künstlerische Praxis von Rajyashri Goody veranschaulicht wie die Dalit-Community im heutigen Indien ihre Identität durch alltägliche Handlungen des Widerstands zurückgewinnt und neu erfindet, z. B. wenn sie zur Schule gehen, Wasser aus öffentlichen Brunnen trinken, sich verlieben, eine Mahlzeit teilen, den Hinduismus ablehnen oder zu anderen Religionen konvertieren. Dalits wurden seit tausenden von Jahren als „Unberührbare“ und „Unreine“ behandelt. Vielen werden immer noch die Grundrechte auf Land, Nahrung, Wasser und Bildung verweigert. Goody interessiert sich dafür wie das Kastensystem von ihrer Familie und ihrer Community in Frage gestellt wurde, durch die Kultivierung von Selbstachtung, Selbstvertrauen und Würde als persönlicher und kollektiver Praxis. Als Teil ihrer Installation ist der Boden mit Papierbrei bedeckt, der ursprünglich ein diskriminierendes hinduistisches Gesetzesbuch namens Manusmriti war.

www.rajyashrigoody.com
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Veronika Hapchenko [UA, 1995]

Veronika Hapchenko studierte Bühnenbild an der Nationalen Universität für Kino und Fernsehen in Kiew bevor sie nach Polen zog, um an der Krakauer Akademie der Bildenden Künste einen Master of Fine Arts in Malerei zu absolvieren. Nach ihrem Abschluss 2021 erhielt sie Auszeichnungen bei der 45. Malerei-Biennale "Bielska Jesień" und beim 19. Hestia Artistic Journey Award. Ihre Arbeiten sind derzeit im Muzeum Sztuki in Łódź im Rahmen der Ausstellung "Citizens of the Cosmos" zu sehen. Veronika Hapchenko arbeitet in den Medien Malerei und Skulptur. In ihren Arbeiten spürt sie Legenden und Tabus um revolutionäre Künstler und politischen Gurus nach, um kulturelle Themen der ehemaligen UdSSR, die zwischen Esoterik und Militarismus schwankten, zu dekonstruieren und neu zu betrachten. Veronika Hapchenko lebt und arbeitet in Krakau. Momentan arbeitet Veronika Hapchenko an einer neuen Serie von Malereien, die im Rahmen der Ausstellung erstmalig präsentiert werden.

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www.importexport.art/exhibitions/13-false-door-by-veronika-hapchenko/overview

Winnie Herbstein [GB, 1989]

Im Mittelpunkt von Dampbusters steht die Arbeit von Cathy McCormack, einer Wohnungsbau- und Armutsbekämpfungsaktivistin aus Easterhouse, Glasgow, die sich dafür einsetzte das Bewusstsein für die Auswirkungen von feuchten Wohnungen auf den Körper zu schärfen. Neben Cathys Geschichte gibt es weitere Beispiele von Gemeinschaften, die für den Zugang zu Wohnraum in der Stadt gekämpft haben und kämpfen. So zum Beispiel Take Root, eine Selbstbaugruppe von Frauen im Glasgow der neunziger Jahre, Maryhill Integration Network, ein Gemeinschaftszentrum für Menschen im Asylsystem und Slaghammers, eine feministische Metallarbeitergruppe, die in einen neuen Raum umzieht.

www.winnieherbstein.com
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Annelies Kamen [US, 1988]

Fountain (Bad Landlord) besteht aus einem versteckten Bewässerungssystem, das an der Decke installiert ist und durch das Wasser in mehrere Keramikeimer tropft, die auf dem Boden verteilt sind - so entsteht die Illusion einer undichten Decke inklusive Übergangslösung. Indem Fountain (Bad Landlord) direkt in die bestehende Architektur des Ausstellungsraums eingreift, bezieht die Installation die Institution selbst in die Frage der Prekarität mit ein. Sie verweist auf Immobilienkrisen in der Kunstwelt und ruft für viele Erinnerungen an ihre privaten Wohnraumkrisen hervor. Die Keramikeimer, die die Tropfen auffangen, spielen gleichzeitig eine Rolle als Kunstobjekte, die ihre Funktion für den Ausstellungsraum erfüllen und als Wasserbehälter, in ihrer Funktion als echte Eimer. Ihre Materialität verweist auf die Verfestigung temporärer Lösungen, überall dort wo Krisenmanagement zur Norm wird.

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Pennie Key [GR, 1987]

Mit der Spiel-Installation Socks Off! erschafft Pennie Key eine Bühne, auf der die Besucher*innen Socken-Wrestling spielen können. Ziel des Spiels ist es dem/der Gegner*in die Socken auszuziehen, während man die eigenen anbehält. Pennie Key spielte dieses Spiel, während sie als Model auf Fetisch-Festivals arbeitete. Für die Installation hat sie eine sterile, schwarz-weiße Umgebung mit äußerst extremen und unverhältnismäßig strengen Regeln geschaffen. Ziel ist es eine räumliche Umgebung zu kreieren, die keine Anhaltspunkte dafür liefert, dass das Spiel Spaß machen sollte und von Kindern und Fußfetischisten gleichermaßen gespielt wird.

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Selma Selman

In Selma Selmans künstlerischen Arbeiten ist das oberste Ziel weibliche Körper zu schützen und einen interdisziplinären Ansatz zur kollektiven Selbstemanzipation unterdrückter Frauen zu ermöglichen: "In diesem Projekt diene ich als Linse, die sich auf die konkreten und bedeutsamen Details der Vergangenheit meiner Mutter fokussiert, auf potentielle und verwirklichte Träume. Ich habe mit meiner Mutter zusammengearbeitet, um Kindheitserinnerungen an ihre Traumzimmer zu rekonstruieren. Eine Kindheit, die sie nie erleben konnte. Durch eine Kinderehe im Alter von 13 Jahren verlor meine Mutter ihre Kindheit. Ihr Traum war es, ein Mädchenzimmer zu haben. Dieses Zimmer wurde während eines Interviews mit meiner Mutter entworfen. Ich zeichnete ihr Zimmer nach realen und fiktiven Erinnerungen an unerfüllte Träume und fertigte dann einen 3D-Druck an. Der Titel von A Pink Room of Her Own bezieht sich auf Virginia Woolfs A Room of One's Own. Auch wenn meine Mutter nicht aus denselben persönlichen Erfahrungen schreibt - sie erlebt und wünscht sich denselben (Frei-)Raum, um zu Leben, Intimität und Freiheit zu spüren." (Selma Selman)

www.selmanselma.com
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